Paartherapie, Personzentrierte Beratung & Weiterbildung (GwG e.V.) 
Jennifer Angersbach

Dürftest Du denn schwach sein, wenn Du es wärst?

"Es sind die Schwächen, die Dich nahbar machen."

Der Dialog

„Schön hast Du es hier, man erkennt voll die Liebe zum Detail und alles wirkt so lebendig!“, sagt Clara begeistert.
Tina winkt lachend ab: „Lebendig ist auch ne schöne Umschreibung für chaotisch! Kaffee?“
Clara lächelt und reißt die Augen auf: „Immer!“

Die beiden setzen sich ins Wohnzimmer. Es fühlt sich ein bisschen komisch an, für beide. Seit einem Jahr verbringen sie jede Mittagspause zusammen und teilen sich ein Büro Privat haben sie sich bisher nie getroffen.

Als Clara den randvollen Pott Kaffee abstellt, schwappt er etwas über auf den Holztisch. Ihr ist es furchtbar unangenehm: „Oh, sorry, ich Trottel!“, sagt sie entschuldigend.

Tina findet Clara nun noch sympathischer, lacht und winkt ab, bevor sie ein Tuch holt: „Sonst bin ich immer die, auf dessen Shirt die Soße oder der Kaffee landet!“
Clara presst die Lippen zusammen und lächelt.

Als Tina zurückkommt, sagt sie: „Marc hat sich Vorgestern von mir getrennt…“
Clara erschrickt, sie dachte immer, Tina hätte einfach eine sehr schöne und sichere Beziehung. „Wie geht es Dir damit?“
Tina zuckt mit den Schultern: „Er hat sich in eine Andere verliebt und dadurch gemerkt, dass wir am Ende der Beziehung angekommen sind… und…“, dann brechen die Tränen schwallartig heraus.

Clara nimmt sie in den Arm. Diese Art von Nähe ist auch sehr ungewohnt und doch fühlt es sich gut an.
„Ich weiß gar nicht was ich dazu sagen soll…“, sagt Clara und versucht gar nicht erst Floskeln zu finden oder aber es schlimmer zu machen, indem sie ihren Gedanken, die Beziehung sei so vollkommen stabil und schön.
Clara weint noch etwas, doch durch die Nähe beruhigt sie sich allmählich.
„Wäre es okay, wenn wir einfach ‚Eat.Pray.Love‘ schauen?“, fragt sie, wie ein kleines Mädchen, das um Erlaubnis bittet.
Clara lächelt: „Klar!"

Tina steht auf und holt ein paar Süßigkeiten, startet den Film und stopft wahllos Schokolade und Weingummi in sich hinein.
Und irgendwie sieht Clara Tina plötzlich nicht mehr nur als die starke, fröhliche und hübsche Arbeitskollegin, sondern als Freundin.

Als Tina später fragt, ob sie bei ihr schläft, lächelt Clara und freut sich, dass sie nicht die Einzige ist, die in solchen Momenten schlecht alleine bleiben kann.

Wie aus Clara und Tina, Freundinnen wurde, kannst Du vermutlich gut nachvollziehen und auch, wie dieser Abend für etwas mehr Tiefe in der Beziehung gesorgt hat.

Clara hat sich gezeigt, ihre Wohnung, ihre Trauer und auch ihr „emotionales Essen“, sowie die Angst vor dem Alleinsein. Dadurch wurde sie für Tina nahbar. Claras Schwächen waren sozusagen die Einladung an Tina, sich auch so zu zeigen, wie sie ist.
So weit so gut, doch Schwächen zu zeigen ist oft gar nicht so leicht…
Dürftest Du denn schwach sein?

9 Gründe warum Du Schwäche ablehnst

Warum wertest Du Schwäche ab?

Ich kann Dir verraten, warum ich Schwäche lange abgewertet habe, weil ich all meinen schwachen Anteilen die Schuld für meine schlimmen, schmerzhaften und traurigen Erfahrungen gegeben habe.
Dieses oder jenes ist passiert, weil ich schwach war, zu schwach, um „Nein“ zu sagen, zum Beispiel.
Und aufgrund dieser Schwäche, kam ich in Situationen, in denen es mir nicht gut ging. Treffen mit Menschen, die ich anstrengend fand. Parties auf die ich keine Lust hatte. Hilfestellungen, für die mir die Kraft fehlte. Situationen, in denen mir Unrecht getan wurde, in denen Grenzen übschritten wurden.
Und der Teufelskreis wurde rund. Zur Abwertung der Schwäche kam mehr Abwertung: Warum bin ich nicht so cool und extrovertiert, wie die Anderen? Warum macht es mir keinen Spaß zu tanzen bis die Wolken lila sind? Warum bin ich so egoistisch und schwach und warum kostet es mich so viel Kraft zu helfen? Warum bin ich so oft Opfer? So klein? So ausgeliefert?
Warum kann ich nicht so sein, wie mich Andere haben wollen? Warum gehöre ich nicht wirklich dazu?
Ich hatte dieses Fehlkonzept, dass man sich nur genug anstrengen muss, um zu… und meine Schwäche stand der Anstrengung im Weg.
Doch wenn ich nun auf meine „Schwächen“ schaue, empfinde ich Dankbarkeit, ich bin nicht nur stark und ich bin nicht nur schwach. Ich bin Jenni, die kleine und die Große. Die Große beschützt mich und die Kleine zeigt mir den Weg zu den Menschen, die mir gut tun, zu den Dingen, die ich brauche und zu den Bedürfnissen, die ich habe.


Manchmal werten wir Schwäche bei Anderen ab, weil wir sie uns selbst nicht erlauben.
Das ist dann eine Mischung aus Frust, Ungerechtigkeit und Verachtung. Ein unglaublich fieser, schwerer Klumpen, der sich bemerkbar macht, wenn die Kollegin einfach ne Woche wegen Magen-Darm zu Hause bleibt - ohne negative Konsequenzen! Ts!
Wenn die Freundin sich einfach erlauben kann, trotz massenhafter Unterstützung bei den Kids, trotz Teilzeitjob und Mann, zu jammern und sich alleine einen Wellnessurlaub gönnt. Wovon muss die sich bitte erholen? Erbärmlich!
Oder wenn ein wichtiger Mensch Deines Lebens sich scheinbar in seinem Leid suhlt, statt die Arme hochzukrempeln und nach Lösungen zu suchen, etwas zu verändern! Das geht doch nicht, man darf sich doch nicht beschweren und nichts tun. Wer will findet Wege! So nämlich!!!
Warum? Weil Du vermutlich viel zu früh die Erfahrung machen musstest, dass Du nicht schwach sein darfst, Ablehnung, Augen rollen oder Ärger bekommen hast.
Und Du hast gelernt, dass es nicht okay ist schwach zu sein. Und hast Dir angewöhnt, nur im äußersten Notfall Deine Schwäche zu zeigen.
Das Problem, wenn Du immer wartest bis nichts mehr geht und dann keine Hilfe bekommst oder niemand Zeit für Dich hat, wirst Du ja bestätigt, darin, dass Du nicht schwach sein solltest.
Die Wahrscheinlichkeit allerdings und dafür muss man kein Mathegenie sein, dass Du abgelehnt wirst, niemand Zeit hat, wird größer, je seltener Du fragst. Wenn Du auch bei Kleinigkeiten um Hilfe bitten würdest oder Dich auskotzen dürftest, wäre es a) nicht sooo schlimm, wenn gerade keiner Zeit hat und b) könnten Deine negativen Erfahrungen viel öfter korrigiert werden. Und das ist genau das, was Du brauchst: Korrigierende Erfahrungen mit Deiner Schwäche.
Die Erfahrung auch als Erwachsene Person gehalten zu werden, wie ein Kind. Den Schrank, der sperrig, aber nicht schwer ist, fix zu zweit mit der Nachbarin zu verstellen. Und die Freundin fragen, ob sie vielleicht Lust hat ne Stunde nach dem Baby zu sehen, damit Du mal ganz in Ruhe den Großeinkauf im Lidl machen kannst. Ja, ich weiß, kannste auch alleine! Aber musst Du vielleicht gar nicht.


Wenn Du Dich immer verantwortlich fühlst, empfindest Du Schwäche bei Anderen als anstrengend.
Hui. Was? Ja. Ein ganz neuer Aspekt. Vielleicht gehörst Du zu den Menschen, die die Verantwortung magisch anziehen, oder es einfach nicht ertragen können, wenn irgendwer seiner Verantwortung nicht nachkommt. Wenn da also irgendwo Verantwortung rumliegt, stöhnst Du innerlich kurz auf und nimmst sie dann. Kein Ding! Mach ich halt!
Aber das summiert sich, irgendwann bist auch Du überfordert und dann? Dann ärgerst Du Dich!

Wenn einfach alle ihrer Verantwortung nachkommen würden, sich mal ein bisschen zusammenreißen und sich nicht so anstellen würden, nicht so schwach und erbärmlich wären, dann wärst Du jetzt nicht so überlastet.
Und was bestätigt sich? Wer schwach ist, fällt Anderen zur Last!
Logischer und dennoch falscher Rückschluss. Ja, sorry. Aber würdest Du Dir Deine Schwäche eingestehen und dann auch mal sagen: „Nee, sorry, schaffe ich nicht!“ und nur dann helfen und unterstützen, wenn Du wirklich Kapazitäten hast, dann könntest Du auch wieder das Schöne im Helfen sehen: Wirksamkeit. Dankbarkeit. Sinnhaftigkeit. Gebraucht werden. Dann ist Unterstützung und Schwäche keine Last mehr, sondern eine sehr erfüllende Aufgabe. Vielleicht setzt Du Dich mal mehr mit Deiner Eigenverantwortung auseinander, als mit der der Anderen.


Wer nur schwer seine Grenzen bemerkt oder/und sie gar nicht erst setzt, empfindet ein „um Hilfe bitten“ als anstrengend.
Jupp. Gerade schon drauf eingegangen. Wenn jede Anfrage als Aufgabe angesehen wird, puh… wie will man denn dann jemals zur Ruhe kommen?
Wenn Du und Deine Stärke keinerlei Grenzen kennt, setzt, dann wirst Du vermutlich auch häufiger um Hilfe gebeten: Du hast ja immer Zeit. Du sagst nie Nein! Bei Dir erfährt man keine Ablehnung! Yeah!
Und Deine ganz eigene Schlussfolgerung: Das möchte ich anderen nicht antun! Dabei können die Anderen vielleicht gut Grenzen setzen? Vertraue darauf, dass es Menschen gibt, auf die Du nicht aufpassen musst und so wird auch eine vermeintliche Ablehnung in Form eines: „Ich habe keine Zeit!“ zu einer korrigierenden Erfahrung auf einer Metaebene… Du darfst auch nein sagen!

Wenn Du Eltern hattest, die aufgrund eigener Themen, nicht ausreichend Fürsorge für Dich hatten, möchtest Du anders sein.
Vielleicht hast Du als Kind zu sehr unter bedürftigen, schwachen Eltern gelitten? In dem Fall kann es sein, das Schwäche gar aus zweierlei Gründen ein Problem darstellt:

  1. Du hast darunter gelitten, weil sie Dich nicht gesehen haben / sehen konnten
  2. Da wir als Kinder alles auf uns beziehen, je nach Alter, hast Du vermutlich versucht Dich anzustrengen, für sie zu sorgen und auf sie aufzupassen…

Du bist es also nicht nur von Kleinauf gewöhnt, stark zu sein, Verantwortung zu tragen und zu helfen UND hast unter deren Schwäche auf Einiges verzichten müssen, eine unbeschwerte Kindheit.
Schwäche stellt vielleicht genau aus diesem Grund keine Option dar.
In dem Fall bedarf es eines sehr behutsamen Zulassens von Schwäche, Schritt für Schritt, denn Schwäche zu fühlen ist für Dich vermutlich etwas sehr Bedrohliches… mache Dir bewusst, dass das Bitten um Hilfe, das Bitten um Gesellschaft, jemand der zuhört und auch das Zulassen von Trauer oder Frust, kein Eingeständnis von Schwäche sind, sondern auch eine bewusste Entscheidung für Selbstfürsorge, die Du nicht brauchst, aber Dir vielleicht leisten/gönnen darfst… mit dieser Perspektive, fällt es Dir vielleicht leichter.

Du hast so große Angst vor Ablehnung und versuchst daher, niemals Unterstützung zu brauchen. Du kämpfst gegen Anteile Deiner Selbst.

Jeder Mensch hat Themen, niemand kann alles alleine. Wir sind alle bedürftig, ein Wort, dass Viele ganz weit von sich weisen, es bedeutet jedoch nichts Anderes, als die Tatsache, dass Du Bedürfnisse hast. Und ja, viele davon kannst und willst Du selber stillen, voll okay. Aber das Bedürfnis nach Fürsorge, Nähe und Liebe, nach Dazugehörigkeit, dass kannst Du Dir nicht alleine geben. Fürsorge ist etwas anderes als Selbstfürsorge. Es ist ein Unterschied, ob Du Dir selbst ne Suppe kochst, wenn Du krank bist und ob Dir jemand eine Suppe ans Bett bringt, selbst wenn Du keinen Hunger hast.

Es sind oft unsere Schwächen die uns nahbar machen. Die neue Kollegin, deren Dutt sich langsam in wohlgefallen auflöst, die sich mit ihrem Kaffee vollplempert als sie Dich zum 2. Mal nach dem Kopiercode fragt, wirkt direkt nahbarer, als die Kollegin die sich bereits am zweiten Tag hervorragend auskennt, keinerlei Fragen hat und sich gar den Kopierercode merken konnte.


Vielleicht warst Du mal furchtbar abhängig und ausgeliefert und wertest Abhängigkeit ab, statt den Grund Deines „Ausgeliefert seins“.

Das passiert ziemlich oft, wir versuchen dann Abhängigkeiten per sé zu vermeiden, weil wir dann keine Kontrolle mehr haben. Und manche Menschen sind noch nicht so weit, diese Wahrheit und Realität für sich gelten zu lassen, die Wahrheit, dass Du nicht alles kontrollieren kannst, die Wahrheit, dass Du nicht alles erreichen kannst, wenn Du Dich nur genug anstrengst, die Wahrheit, dass die Welt ungerecht sein kann und Du ihr und den Menschen - egal wie sehr Du Dich anpasst und anstrengst, ausgeliefert bist.
Wer so ausgeliefert war, klammert sich an die Illusion, alles schaffen, erreichen und überwinden zu können, strengt sich an, passt sich an, und nährt damit die Hoffnung, dass es ihm/ihr nie wieder passieren kann, ausgeliefert/alleine zu sein. Doch genau diese Hoffnung, diese Illusion sorgt dafür, dass Du gegen Dich selbst kämpft…

Du kompensieret mangeldes (Ur)Vertrauen mit Kontrolle, selbst wenn Du schwach, überfordert und ausgeliefert bist, hältst Du daran fest, dass nur ausreichend Kontrolle (durch bspw. Anstrengung) nötig sei und weigerst Dich schwach zu sein.

Frage Dich: Dürftest Du schwach sein, wenn Du es wärst?

Fazit

Zurück zu Clara und Tina, Tinas Schwächen waren sozusagen die Einladung an Clara, sich auch so zu zeigen, wie sie ist, mit all den Schwächen & Stärken. Doch wie Du hier heute erfahren hast, gibt es reichlich nachvollziehbare Gründe warum und was genau Dich hindert Schwäche zu zeigen.

Es gibt etliche Hürden, die größte Hürde ist wohl die, dass Du Dir zunächst selbst Deine Schwächen in Form von Überforderung und Ängsten eingestehst.

Und je nach Erfahrung bedeutet es eben auch ein gesundes Maß zwischen Verantwortung und Hilflosigkeit zu finden.

Es klingt zunächst erstrebenswert, diese Illusion, dass Du ALLES schaffen kannst, wenn Du wirklich willst.

  • Dich nur genug anstrengst. 
  • Geduldig bist. 
  • Unkompliziert bist. 
  • Nicht so emotional. 
  • Und vor allem nicht so schwach - so abhängig, hilflos, so bedürftig.

 

…aber so ist es nicht.

 

Ja, es gibt Dinge, auf die hast Du Einfluss, die kannst Du verändern.
Aber es gibt auch reichlich Dinge, auf die Du keinen Einfluss hast, die Du nicht kontrollieren, verändern kannst.
Manchmal bist Du ausgeliefert, bist schwach, kannst etwas nicht allein, bist es aber.
Das ist die Wahrheit. Die Realität.
Das ist das, was Du vielleicht nicht wahr haben willst und deswegen suchst Du den Fehler bei Dir und nimmst jede Beschwerde Anderer, jedes Feedback und je Kritik zum Anlass Dich zu „optimieren“. Du kämpfst gegen Dich selbst, in dieser Welt die Dich ständig anders haben will.
Oder aber Du wertest Schwäche per sé ab, bei Dir UND bei Anderen… wenn die Anderen nicht alle so erbärmlich wären, nicht so abhängig von Hilfe, dann würde es Dir ja deutlich besser gehen, wenn Du Deine Kraft einfach nur in Dich stecken könntest…

DANN… wärst Du nicht mehr so schwach… und Du wärst alleine. Denn emotionale Verbundenheit wird durchs Teilen der Abgründe erzeugt.

 

Daher: Lass Dir Zeit. Es ist zu spät für eine schöne Kindheit, so weh das auch tut, aber es ist nicht zu spät für ein schönes Leben - ohne sich im permanenten Krieg mit sich selbst zu befinden.


 

 
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